Dienstag, 22. Mai 2012

Secret Nr. 1

Wie soll ich beginnen? Es fällt mir sehr schwer, diesen Schritt zu gehen. Aber vor kurzem ist mir klar geworden, dass ich nicht alles vergessen kann, nur weil ich weg ziehe. Ich muss meine Vergangenheit akzeptieren. Ich muss sie aufarbeiten. Und ich will, dass ich lerne, dass sie ein Teil von mir ist. Auch, wenn ich 300km weit weg ziehe, meine Vergangenheit begleitet mich.

Wie schon gesagt, es fällt mir sehr schwer, dass alles hier aufzuschreiben, zu veröffentlichen. Hunderte Menschen werden es lesen. Darunter meine Freunde. Warum tue ich das?
Weil ich keinen anderen Weg dafür sehe. Es bringt nichts mit Freunden zu reden. Das würde nicht alles lösen. Hier, in meinem Blog, in meinem Herz, kann ich es aufschreiben. Ich kann Wörter schreiben - sie wieder löschen. Bis es passt. Bis es wirklich das aussagt, was es aussagen soll. Und wer weiß, vielleicht hilft es mir wirklich endlich abzuschließen. Es soll das Kapitel schließen. Man muss ein Kapitel schließen, um ein neues beginnen zu können.

Hunderte Male bin ich diesen Eintrag im Kopf durch gegangen. Seit längerer Zeit gibt es ihn, als unveröffentlichte Worddatei. Ich hatte Angst. Angst vor den Reaktionen meiner Mitmenschen, wenn sie das hier gelesen haben. Es handelt sich um ein Geheimnis. MEIN Geheimniss, welches über Monate auch nur mir gehörte. Niemand wusste davon. Bis heute. Denn in all den Monaten habe ich gelernt, dass es nichts bringt, alles zu verbergen. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse die er mit sich rum trägt. Geheimnisse, die er nicht mal der besten Freundin erzählt. Das hier war so eins - bis heute.

Alles begann irgendwann im Jahr vor etwas mehr als einem Jahr.
2011. Ich musste begreifen, dass meine erste große Liebe mich total verarscht hat, dass er mich blamiert hat und ich mich vor allen lächerlich gemacht hat. (Wegen ihm habe ich begonnen die Pille zu nehmen. Von der ich übrigens ziemlich zunahm.) Mein Leben fühlte sich nicht mehr lebenswert an. Ich habe es gehasst. Habe mich gehasst. Wieso war ich Monate lang so blind? Ich fiel in ein tiefes Loch. Alkoholabstürtze, Depressionen, Hass und vieles andere bestimmten von da an mein Leben. Bis der Gedanke in mir aufkam mich zu rächen. Ich wollte, dass er bereut was er mir angetan hat. Lange überlegte ich.
Bis ich durch Zufall bei Tumblr auf die “Pro-Ana-Regeln” traf. Ich war fasziniert. Stundenlang las ich Artikel und Blogs. Dann stand mein Entschluss fest: Du wirst abnehmen und im nächsten Sommer wird er dich wieder sehen - im Bikini. Und er wird bereuen, dich gehen gelassen zu haben.



Doch es kam anders. Anfangs klappte alles gut. In den Ferien hungerte ich. 5kg verlor ich in einer Woche. Ich aß kaum, trank nur Wasser und Grünen Tee. Ich informierte mich über Kalorien und Dinge die satt, aber nicht dick machten. Sie machten mich nie satt. Von Tag zu Tag ging es mir schlechter. Mein Kreislauf hielt es nicht durch. Ich brach mehrmals zusammen. Bei Freunden, in der Schule, Zuhause. Am Tag trank ich Unmengen von Kaffee. Ich zitterte, war blass und konnte mich nicht mehr konzentrieren. 3 Mal am Tag war wiegen angesagt: Morgens, nach der Schule und Abends.



And i hope the sun shines, and it’s a beautiful day, and something reminds you, you wish you had stayed....


Das verrückte ist: Ich kann mich noch heute genauestens dran erinnern, was ich an diesen Tagen zu mir genommen hatte. Wenn man mich heute fragt, was es gestern gab, brauche ich Zeit um nachzudenken. Damals nicht. Ich werde nie die 3 Erdbeeren zum Mittag vergessen, die ich mir gönnte, nachdem ich 2 Stunden auf dem Erdbeerfeld war. Die Hochzeit, als ich mir ein Hauchdünnes Stück Hochzeitstorte abschnitt. Außen herum gelbes Marzipan. Es zerging auf der Zunge. Innen 3 dünne Schichten Marmelade, daneben hellgelbe Creme und heller Teig.
Es gab Farbentage, in denen ich nur bestimmte Nahrung zu mir nahm, die alle die gleiche Farbe hatten. Zahlentagen. Meine Lieblingszahl 4. Morgens 4 Löffel Haferflocken, ohne Milch. Zum Mittag 4 Stück Kartoffeln, das Fleisch durch vier geteilt, ein Stück gegessen. So ging das Tage lang.





Irgendwann konnte mein Körper nicht mehr. Ich bekam einen Fressanfall. Pizza, Schokolade, Eis, Käse, Toast, Nutella. Alles auf einmal. Ich bekam nicht genug. Ich war vertieft in all das Essen. Ich fraß den halben Kühlschrank leer. Danach übergab ich mich.
Dann kam die Wende. Ich hielt die Fastentage nicht mehr durch, nahm wieder zu. Von da an übergab ich mich täglich. Ich steckte mir den Finger in den Hals bis bittere Magensäure oder gar Blut kam. Halsschmerzen und weiterhin Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Ich habe es gehasst. Und doch war es immer so befreiend. Es fiel immer eine unheimliche Last von mir ab. Auch hier werde ich nie vergessen, was ich alles ausgekotzt habe. Am schwersten ging Pizza. Der Teig bildet Klumpen im Magen, man muss Angst haben zu ersticken. Am einfachsten ging Toast, gleich nachdem man es gegessen hatte.
Im übrigen bekommt man vom kotzen Hamsterbacken, da die Magensäure wirklich ALLES angreift. Wieder etwas, dass ich an mir hasste.



Meine Familie bekam davon kaum etwas mit. Meine Schwester ist auch mit 16 ausgezogen, meinem Dad ist nichts wichtiger als die Arbeit, meine Mum hatte auch kaum Zeit. Doch sie merkte es schon irgendwie. Wir gingen zum Arzt, wegen der Schwindelanfälle, ich bekam Tabletten. Ich weiß nicht, ob der Arzt damals etwas gemerkt hat. Er fragte nicht nach dem Schwindel, er fragte, ob ich regelmäßig aß und ich musste ihm genauestens über meine Schlafstörungen berichten. Dann durfte ich heim.

Ich kann nicht genau sagen, wie lang der Zeitraum von all dem war. Manchmal fühlte es sich an, als wären es nur wenige Tage, dann wieder wie Jahre. Ein Tagebucheintrag aus dieser Zeit: “wenn ich einmal mein Essverhalten unter Kontrolle bekomme, bekomme ich auch die Gefühle für IHN unter Kontrolle!” Davon war ich damals überzeugt. “...aber das ist erstmal mein Ziel und solang ich dieses Ziel verfolge, vermisse ich ihn kaum. Das ist sinnlos, ich bedecke meine Gefühle nicht mit fetttriefenden und kalorienreichen Essen ! Ich kann ohne. Stimmen in meinem Kopf und dieser verdammt Selbsthass. Oh bitte, wie soll ich da wieder heraus kommen?”

Ich weiß bis heute nicht, was dann passiert ist. Doch das kotzen und das hungern wurden seltener. Es waren eher Anfälle. Wenn ich großen Stress hatte, dann baute das kotzen den Stress ab. Durch das hungern konnte ich IHN vergessen. Weil es in den Tagen nichts wichtigeres gab als Kalorien.

Aber ich wollte nicht, dass es so weiter ging. Irgendwie kämpfte ich mich zurück. Informierte mich im Internet. Erfahrungsberichte, Selbsthilfegruppen, Bücher.  Unterstützung gaben mir auch einige aus meiner Twittergemeinde. Danke an der Stelle an Katha. Du hast mir immer zugehört. Bei dir konnte ich ehrlich sein, meinen Gefühlen Ausdruck verschaffen und vor allem: Du hast mich verstanden.

In all der Zeit empfand ich diese “Phase” nie als Magersucht oder Essstörung. Darüber habe ich nie ein Wort verloren. Denn natürlich blieb sowas nicht unbemerkt. “Bildet sich Auri immer noch ein magersüchtig zu sein?” Ich habe es gehasst. Ich wollte nie Aufmerksamkeit, eher meine Ruhe. Es war doch mein Ding. Wieso machten mich die Menschen zu ihrem Thema? Für mich war es irgendwann kein Ding des abnehmens mehr. Es war ein Teil von mir, etwas das mich begleitet. Etwas, dass Druck abbaute. KEINE ESSSTÖRUNG. KEINE MAGERSUCHT.
Die Menschen rauchen, die Menschen trinken. Und ich hatte andere Wege. Es war immer das einzige, was ich wirklich kontrollieren konnte. Und es war das einzige was mir gehörte. 
Magersüchtige sind wirklich krank. Sie beherrschen sich und essen nichts bis extrem wenig, es geht meist Jahre und sie haben oft starkes Untergewicht. Ihre Krankheit ist lebensbedrohlich. Vielleicht hätte mir das auch passieren können, aber es war nie mein Plan und ich habe rechtzeitig die Kurve gekriegt- warum auch immer. Trotzdem, der zu niedrige Blutdruck und das ständige frieren blieb. Tabletten nehme ich auch heute noch.

Ich kaufte mir das Buch “Alice im Hungerland”. An hundert Stellen in dem Buch fand ich mich wieder. Unzufriedenheit. Selbsthass. Man selbst fühlt sich fremd in seinem Körper.

“...dann betrachtete ich mich im Spiegel. Plötzlich fühlte ich, wie mein Gehirn sich spaltete: Dieses Mädchen dort war mir gänzlich unbekannt. Ich wurde zu 2 Personen: Zu dem Menschen in meinem Kopf und zu dem Mädchen dort im Spiegel. Wenn ich still da saß und dachte: Nicht ich - nicht ich - nicht ich, immer wieder, dann fühlte ich mich bald wie 2 Mädchen, die einander durch das Glas des Spiegels hindurch ansahen.”

Generell empfand ich mich selbst oft als ziemlich seltsam. Ich hasse Berührungen. Lass so gut wie niemanden an mich ran. Nicht mal mehr meine Mutter. Außer, wenn ich wirklich verliebt bin. Dann geht es. Auch hier gibt es Phasen in denen es besser geht und dann wieder nicht. Kurze Umarmung - ok. Langes kuscheln? Nein. Ich hasse es, wenn mich jemand an sich heran drückt und ich das Gefühl bekomme, nicht fliehen zu können. Genauso hasse ich die Menschen die das Ausnutzen und sich darüber lustig machen. Wenn mich jemand unerwartet berührt. Jedes Mal zucke ich zusammen, stehe Ängste aus. Und die Leute machen sich lustig.
Ich brauche ein Stück um Menschen vertrauen zu können. Bei einigen sind Berührungen dann okay und bei anderen werden sie es nie sein.

Ich verliebte mich neu. Mein Leben schien wieder normal zu verlaufen. Zum Essen habe ich seither eine gespaltene Beziehung. Ich nehme Nahrung zu mir, aber ich hasse mich dafür.
Ich wurde wieder verlassen. Das Spiel drohte erneut zu beginnen. Ich musste stark bleiben, ich wusste, dass es nichts bringt.

Es hat mir geholfen. Ich verschwende nicht mehr alle Gedanken an Essen. Ich will wieder leben. Ein Neubeginn - der Umzug. Aber wie gesagt, dafür muss ich meine Vergangenheit akzeptieren. Die einen schreiben ein Buch, ich schreibe meinen Blog und twittere. Ich hätte nie geglaubt, dass mir das so viel Kraft gibt. In allen Lebenslagen. Er war es nie wert, dass ich das alles durch machen musste.
Ich weiß, dass viele Leute jetzt darüber reden werden. Die einen sind sicher noch immer der Meinung ich bilde mir alles nur ein und will nur Aufmerksamkeit. Aber das ist mir egal. Dann sollen sie meine Post’s nicht lesen und mir keine Aufmerksamkeit schenken. Alles was ich will, ist glücklich sein und mein Leben nicht mehr an Menschen zu verschwenden, die es nicht wert sind. Ich fühle mich noch immer unwohl in meinem Körper, ziehe keine kurzen Hosen oder Röcke an. Ich würde gerne ein paar Kilos leichter sein. Aber nicht mit dem Weg einer Bulimie oder Anorexia.

Eine (dumme) Angewohnheit habe ich behalten: Ich esse den Teller (hauptsächlich beim Mittag) nie leer. Ich muss immer etwas drauf lassen. Ich würde mich viel zu sehr ärgern alles zu essen. Was gibt es für einen schrecklicheren Anblick als einen komplett leergegessenen Teller?

Dieser Text hat mich sehr viel Kraft gekostet.

Denkt was ihr wollt. Seid ehrlich. Kommentare werde ich beantworten, egal ob gute oder schlechte. Ich bin weder krank noch “gestört”. Ich war blind und ich liebte eine andere Person mehr, als mich selbst.

17 Kommentare:

  1. Wahnsinn. Dein Text lässt mich nachdenken.

    AntwortenLöschen
  2. wow. du hast einen unglaublich guten stil zu schreiben. deine geschichte ist traurig, aber ich denke, du schaffst das.
    und, ich glaube dir.

    AntwortenLöschen
  3. Der Text ist wahnsinnig gut geschrieben. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es sein muss, so etwas zu schreiben. Du schaffst das<3

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke. Ich glaube, durch das aufschreiben habe ich es schon geschafft. :)

      Löschen
  4. Ich bin so verdammt stolz auf dich, Auri. <3

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke. Und danke, dass du IMMER für mich da warst. Die ganze Zeit <3

      Löschen
    2. Nichts zu danken, bin ich jetzt immer noch. <3

      Löschen
  5. Du bist so ein starkes Mädchen.
    Pass auf dich auf.

    AntwortenLöschen
  6. Wie heißt es so schön ... Don't forget to love yourself?
    Ich denke keinem Menschen würde es besser als Tattoo stehen als dir.
    Großartig wie du das meisterst, mir ging es ähnlich, von hungern , bis hin zu dem man nicht mehr ich selbst zu sein. Ich hoffe du packst dass & ich hoffe auch das der Umzug dir hilft. lass die Dinge in dem Ort den du verlässt. Fang woanders neu an. Natürlich rütelt die Vergangenheit immer wieder gern an einem, aber versuch damit abzuschließen und den Frieden zu finden.. Ich glaub dran , hat mir auch geholfen :)
    Ps. Jeder von uns ist Kunst, gezeichnet vom Leben.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, ein Tattoo will ich schon lang ;) Ich denke auch, dass es mit dem Umzug besser wird. Ich wünsche dir auch noch viel Glück.<3

      Löschen
  7. Wow, wahnsinns toller Text! Mir ging und geht es immer noch ähnlich mit dem hungern, dem "neben sich selbst stehen und 2 unterschiedliche Menschen sehen". Ich bin mir sicher, du schaffst das und das mit dem Umzug ist eine super Idee. Es hat sicher viel Mut erfordert, diesen Text zu schreiben und dafür verdienst du allen Respekt der Welt! Deine Erzählung hat mich total bewegt und du hast wirklich ein Talent, deine Gefühle in Worte zu fassen. Die Idee mit dem 2. Twitteraccount hat mich inspiriert, ich werde mir in den nächsten Tagen auch einen 2. zulegen :) Bleib so mutig und wage einen Neuanfang - keep going, girl :))

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank :) Ja, es braucht viel Mut, aber wenn ich all die Kommentare lese, weiß ich, dass es kein Fehler war. Danke <3

      Löschen
  8. Ich finde es wirklich wahnsinnig mutig von dir, dass du all' dies aufschreibst, wo es richtig viele Menschen lesen werden. Dafür hast du meinen ganzen Resprekt.
    Ich denke, du hilfst damit vielen. Ich hätte niemals den Mut dazu gehabt. Ich habe mich total in diesem Text wieder gefunden. Es ist, als hättest du in mich geschaut und meine Gefühle, Situation, etc. genommen und aufgeschrieben.

    Und da du diese Phase gemeistert hast, wirst du alles im Leben meistern. Davon bin ich fest überzeugt. :)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ohje, wie süß von dir, danke <3 Es hat mir wirklich geholfen, alles aufzuschreiben. Man kann viel besser damit umgehen. Wahrscheinlich geht es wirklich vielen Menschen so. Somit kann ich nur sagen, dass sie es auch einfach alles aufschreiben sollten. Es hilft. Ich hoffe du hast recht und ich werde mein Leben meistern können (:
      Danke! <3

      Löschen